Leben mit der Liebe

Eine Begebenheit, die sich ungefähr um das Jahr 1900 in Paris zugetragen hat: Der Dichter Rainer Maria Rilke war ein großer Rosenfreund. Gemeinsam mit einer jungen Französin kam er in Paris um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin saß und um Geld bat. Sie hielt sich immer am gleichen Ort auf und nahm die Almosen entgegen, ohne auch nur einen Blick auf die Geber zu verschwenden. Rilke gab ihr nie etwas, während seine Begleiterin der Frau öfters Geld gab. Als die Französin eines Tages fragte, warum er der Frau nie etwas gebe, erhielt sie zur Antwort, dass man ihrem Herzen und nicht ihrer Hand etwas schenken solle. Einige Tage darauf brachte Rilke der Bettlerin eine schöne, frisch erblühte Rose und legte sie in ihre Hand. Da geschah etwas Unerwartetes: Die Bettlerin tat etwas, was sie nie getan hatte. Sie blickte zum Geber auf, erhob sich mühsam vom Boden und ging mit der Rose davon. Eine ganze Woche war die Bettlerin nicht mehr zu sehen. Dann saß sie wieder wie zuvor an ihrem gewohnten Platz und wandte sich weder mit einem Blick noch mit einem Wort an ihre Geber. Auf die Frage der Französin, wovon die Frau während der Zeit, in der sie keine Almosen erhalten habe, gelebt habe, antwortete Rilke: "Von der Rose".
Aus einer Hochzeitsansprache